Lipidmythen entzaubert: Cholesterin, Ernährung und Therapie – was die Wissenschaft sagt

Veröffentlicht am: 11.02.2025

Cholesterin, Statine und Ernährung – kaum ein anderes medizinisches Thema ist in der breiten Öffentlichkeit so stark von Mythen geprägt. Aktuelle Studien zeigen, welche Zusammenhänge zwischen Cholesterinwerten, gesättigten Fettsäuren und kardiovaskulären Risiken wirklich relevant sind.

Cholesterinmythen – Ernährungsparadigmen auf dem Prüfstand

Cholesterin – kaum ein anderer Bestandteil des Lipidstoffwechsels wurde häufiger missverstanden, kontroverser diskutiert oder öfter als Sinnbild eines Gesundheitsrisikos stilisiert. Jahrzehntelang galt: Cholesterinreiche Ernährung ist gefährlich, gesättigte Fette sind der Herzinfarktgarant und Statine das unvermeidliche Schicksal ab einem gewissen Alter. Doch die Wissenschaft hat sich weiterentwickelt.

Die einfache Gleichung „mehr Cholesterin in der Nahrung = höherer Cholesterinspiegel im Blut“ ist längst widerlegt. Und doch: Neue Mythen haben die alten ersetzt. Ist Rotschimmelreis wirklich die natürliche Alternative zu Statinen? Führen Cholesterinsenker zu Vitaminmangel oder gar Demenz? Solche und andere Fragen haben Sie vielleicht auch schon von Ihren Patient:innen gehört.

Ein genauerer Blick auf die aktuelle Evidenz offenbart nicht nur überholte Paradigmen, sondern auch überraschende Erkenntnisse über Cholesterin, Statine und weitere Behandlungsansätze.

Mythos 1:
Cholesterinreiche Nahrung erhöht automatisch den LDL-C-Wert

Über Jahrzehnte hinweg wurde vor einem übermäßigen Verzehr cholesterinreicher Lebensmittel wie Eier und Butter gewarnt, da diese als Hauptursache für erhöhte LDL-C-Werte und damit als zentrale Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen galten. Neuere Erkenntnisse aus groß angelegten Kohortenstudien wie der Framingham Offspring Study und der PURE-Studie haben jedoch gezeigt, dass die Cholesterinzufuhr aus der Nahrung bei den meisten Menschen nur einen geringen Einfluss auf den Serumcholesterinspiegel hat.1,2

Der Grund hierfür liegt in der Regulation der Cholesterinbiosynthese in der Leber, die durch einen hochsensiblen Feedback-Mechanismus gesteuert wird: Steigt die externe Cholesterinzufuhr, reduziert die Leber die Eigenproduktion – und umgekehrt. Lediglich bei einer kleinen genetisch bedingten Minderheit, den Hyperrespondern, zeigt sich eine signifikante Erhöhung des Serumcholesterinspiegels durch eine cholesterinreiche Ernährung. Dieser Anstieg betrifft sowohl LDL- als auch HDL-Cholesterin, hat jedoch in der Regel keine nachteiligen Auswirkungen auf das LDL/HDL-Verhältnis oder das kardiovaskuläre Risiko.3

Mythos 2:
Gesättigte Fettsäuren sind per se schädlich

Gesättigte Fettsäuren wurden lange Zeit pauschal als ungesund eingestuft. Neuere Studien zeigen jedoch, dass ihr Einfluss auf den LDL-C-Spiegel und die kardiovaskuläre Gesundheit komplexer ist als bisher angenommen. Dabei ist nicht allein die LDL-C-Konzentration im Blut entscheidend, sondern vor allem das qualitative Partikelprofil: Kleine, dichte LDL-C-Partikel gelten als atherogener als große, weniger dichte Partikel.4 Interessanterweise scheint dieses Partikelprofil stärker durch den Konsum von Zucker und raffinierten Kohlenhydraten moduliert zu werden als durch die Aufnahme gesättigter Fettsäuren.5-6

Darüber hinaus gibt es keine überzeugenden wissenschaftlichen Belege für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Aufnahme gesättigter Fettsäuren und einem erhöhten kardiovaskulären Risiko. Eine Meta-Analyse, die im American Journal of Clinical Nutrition veröffentlicht wurde, konnte keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Zufuhr gesättigter Fettsäuren und dem Risiko für koronare Herzkrankheit feststellen.7

Mythos 3:
Pflanzliche Öle sind immer gut für den Cholesterinspiegel

Pflanzenöle gelten gemeinhin als gesundheitsfördernd, insbesondere in Bezug auf das kardiovaskuläre System. Während Omega-3-reiche Öle wie Leinöl oder Walnussöl nachweislich protektive Effekte auf das Herz-Kreislauf-System besitzen, stehen hochraffinierte, Omega-6-haltige Öle wie Sonnenblumen- oder Maiskeimöl im Verdacht, inflammatorische Prozesse zu fördern. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn das Verhältnis von Omega-6- zu Omega-3-Fettsäuren in der Ernährung unausgewogen ist.8 Gleichzeitig zeigt Linolsäure, die wichtigste Omega-6-Fettsäure in Pflanzenölen, bei moderater Zufuhr und einem ausgeglichenen Verhältnis zu Omega-3-Fettsäuren durchaus kardioprotektive Eigenschaften.9

Darüber hinaus enthalten viele Pflanzenöle bioaktive Substanzen wie Phytosterine, die strukturell mit Cholesterin verwandt sind. Diese werden aufgrund ihrer Fähigkeit, den Cholesterinstoffwechsel zu beeinflussen, häufig auch als „pflanzliche Cholesterinsenker“ bezeichnet. Ihre Wirkung basiert auf einer kompetitiven Hemmung der intestinalen Cholesterinabsorption: Dies kann zu einer vermehrten Ausscheidung von Cholesterin und einer Reduktion des Serum-LDL-C-Spiegels führen.10

Frühere Hypothesen, die erhöhte Phytosterin-Konzentrationen mit einem Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen in Verbindung brachten, wurden durch neuere Untersuchungen widerlegt.11

Mythos 4:
Ballaststoffe haben keinen Einfluss auf den Cholesterinspiegel

Die Annahme, dass Ballaststoffe keinen Einfluss auf den Cholesterinspiegel haben, ist wissenschaftlich widerlegt. Lösliche Ballaststoffe, wie β-Glucane aus Hafer oder Pektine aus Äpfeln, können nachweislich die LDL-C-Konzentration senken.12 Sie wirken, indem sie Gallensäuren im Darm binden, sodass der Körper vermehrt eigenes Cholesterin zur Neusynthese von Gallensäuren nutzen muss. Dadurch wird weniger Cholesterin ins Blut aufgenommen, was zu einem messbaren Rückgang des LDL-C-Werts führt. Der Effekt ist klinisch relevant: Eine ballaststoffreiche Ernährung kann das LDL-C um bis zu 10 % senken.13

Therapie-Mythen – Rotschimmelreis, Statine und Demenz

Mythos 5:
Rotschimmelreis – die „sanfte“ Alternative zu Statinen?

Rotschimmelreis wird häufig als „natürliche“ Alternative zu Statinen angepriesen. Doch diese Annahme ist irreführend: Der pharmakologisch aktive Hauptbestandteil von Rotschimmelreis, Monacolin K, ist chemisch mit dem verschreibungspflichtigen Statin Lovastatin identisch.14 Daraus resultieren sowohl vergleichbare therapeutische Effekte als auch ein ähnliches Nebenwirkungsprofil.

Das Problem: Während verschreibungspflichtige Statine exakt dosiert und auf Wirksamkeit sowie Sicherheit geprüft werden, unterliegt der Monacolin-K-Gehalt in Rotschimmelreis-Produkten starken Schwankungen. Dies kann dazu führen, dass manche Produkte unwirksam sind, während andere unkontrolliert hohe Wirkstoffmengen enthalten – mit einem entsprechend höheren Risiko für Nebenwirkungen wie Myopathien, Hepatotoxizität oder gastrointestinalen Beschwerden.

Ein weiteres ernstzunehmendes Risiko ist die mögliche Kontamination mit Mykotoxinen wie Citrinin, einem Stoffwechselprodukt von Schimmelpilzen mit nephrotoxischen Effekten. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) weist daher ausdrücklich auf die Risiken des unkontrollierten Konsums von Rotschimmelreis-Produkten hin.15

Mythos 6:
Statine verursachen Vitaminmangel

Die Sorge, dass Statine zu einem Mangel an Coenzym Q10 und Vitamin D führen, hält sich hartnäckig. Tatsächlich teilen Cholesterin und Coenzym Q10 denselben Biosyntheseweg – den Mevalonat-Weg. Da Statine die HMG-CoA-Reduktase hemmen, wird nicht nur die Cholesterinsynthese gehemmt, sondern auch die Produktion von Coenzym Q10 reduziert. Studien haben gezeigt, dass unter Statintherapie die Plasmawerte von Coenzym Q10 sinken.16

Doch was bedeutet das klinisch? Einige Theorien besagen, dass eine Reduktion von Coenzym Q10 statinassoziierte Muskelbeschwerden wie Myalgien oder Myopathien verstärken könnte. Dieser Zusammenhang konnte jedoch in kontrollierten Studien bisher nicht eindeutig bestätigt werden.17

Und Vitamin D? Die Wirkung von Statinen auf den Vitamin-D-Status ist bislang nicht eindeutig geklärt. Einige Studien deuten darauf hin, dass Statine durch einen möglichen Einfluss auf den Vitamin-D-Metabolismus oder die Aktivierung des Vitamin-D-Rezeptors zu leicht erhöhten Serum-Vitamin-D-Werten führen könnten. Andere Studien zeigen hingegen unveränderte oder leicht reduzierte Werte.18-21 Insgesamt gibt keine evidenten Hinweise dafür, dass eine Statintherapie einen klinisch relevanten Vitamin-D-Mangel verursachen würde.

Mythos 7:
Statine fördern Demenz

Frühere Fallberichte und Beobachtungsstudien ließen die Vermutung aufkommen, dass Statine das Risiko für die Entwicklung einer Demenz oder kognitiver Beeinträchtigungen erhöhen könnten. Neuere Studien widersprechen dieser Befürchtung jedoch deutlich. Studien zeigen, dass Statine sogar protektive Effekte entfalten können, indem sie vaskuläre Entzündungen reduzieren und die Funktion des Endothels verbessern. Diese Wirkungen können zur Modulation pathophysiologischer Prozesse beitragen, die für die Entstehung vaskulärer Demenzen von Bedeutung sind.23

Fazit: Wissenschaft statt Paradigmen

Cholesterin in der Nahrung ist kein Feind, gesättigte Fette sind nicht per se gefährlich und eine lipidsenkende Therapie ist nicht immer automatisch mit unerwünschten Nebenwirkungen assoziiert. Die aktuelle Studienlage zeigt, dass viele gängige Mythen einer differenzierten Betrachtung nicht standhalten.

Nahrungscholesterin hat nur einen geringen Einfluss auf den Serumcholesterinspiegel.
Die Fettsäurezusammensetzung der Nahrung ist entscheidender als die Gesamtfettzufuhr.
Lösliche Ballaststoffe wie β-Glucane haben nachweislich einen LDL-C-senkenden Effekt von bis zu 10 %.
Rotschimmelreis enthält Monacolin K, chemisch identisch mit Lovastatin, jedoch ohne standardisierte Dosierung und mit Risiken wie Mykotoxin-Verunreinigungen.
Statine verursachen keinen klinisch relevanten Vitaminmangel: Weder Coenzym Q10- noch Vitamin-D-Mangel konnten eindeutig nachgewiesen werden.
Statine fördern keinen kognitiven Abbau: Studien zeigen keinen Zusammenhang mit Demenz; einige Untersuchungen deuten sogar auf eine protektive Wirkung bei vaskulärer Demenz hin.

Für die ärztliche Praxis bedeutet das:

Eine fundierte und effektive Patienti:nnenberatung zur Lipidtherapie erfordert eine wissenschaftlich fundierte, aber zugleich empathische Kommunikation. Ärzt:innen stehen vor der Herausforderung, lang etablierte Mythen und Fehlinformationen zu korrigieren, ohne dabei Widerstand oder Verunsicherung zu erzeugen.

Viele Patient:innen haben über Jahre hinweg vereinfachte Gesundheitsbotschaften verinnerlicht – sei es die Angst vor Cholesterin, die Verteufelung gesättigter Fette oder die Sorge vor Nebenwirkungen von Statinen. Diese Überzeugungen lassen sich nicht allein durch Fakten entkräften, sondern erfordern eine zielgerichtete und verständliche Aufklärung, die wissenschaftliche Evidenz mit den individuellen Bedürfnissen der Patient:innen verbindet.

Wichtig ist eine differenzierte Beratung, die Ängste ernst nimmt, aber zeigt, dass medizinische Wahrheiten oft komplexer sind als plakative Mythen.

Denn hinter den oberflächlichen Erzählungen über „gutes“ und „böses“ Cholesterin liegt eine Realität, die komplexer ist, als es Mythen oder vereinfachte Gesundheitsbotschaften oft vermitteln.


Literatur:

    1. Mente A et al. Lancet Diabetes Endocrinol. 2017;5(10):774-87
    2. Lin Hsuan-Ping, et al. Nutrients 2018: 10(6):770
    3. Herron KL et al. J Nutr. 2003; 133(4):1036-42
    4. Siri PW, Krauss RM. Curr Atheroscler Rep. 2005; 7(6):455-59
    5. DiNicolantonio JJ, Lucan SC, O’Keefe JH. Prog Cardiovasc Dis. 2016; 58(5):464-72
    6. Siri-Tarino PW et al. Am J Clin Nutr. 2010; 91(3):502-9
    7. Siri-Tarino PW et al. Am J Clin Nutr. 2010; 91(3):535-46
    8. Chaves H et al. In: The Role of Functional Food Security in Global Health. Academic Press, 2019:217-59
    9. Marklund M et al. Circulation. 2019; 139(21):2422-36
    10. Sanclemente T et al. Nutr Metab Cardiovasc Dis. 2012; 22(10):849-55
    11. Genser B et al. Eur Heart J. 2012; 33(4):444-51
    12. Othman RA et al. Nutr Rev. 2011; 69(6):299-309
    13. Whitehead A et al. Am J Clin Nutr. 2014; 100(6):1413-21
    14. Dujovne CA Am J Med. 2017; 130(10):1148-50
    15. Gemeinsame Expertenkommission BVL/BfArM. Stellungnahme zur Einstufung von Rotschimmelreisprodukten. 02/2016
    16. Banach M et al. Mayo Clin Proc. 2015; 90(1):24-34
    17. Taylor BA et al. Atherosclerosis. 2015; 238(2):329-35
    18. Mazidi M et al. Int J Prev Med. 2016; 7(1):80
    19. Radhakrishnan A et al. Int J Basic Clin Pharmacol. 2015; 4(5):859-63
    20. Sahebkar A et al. Curr Pharm Des. 2017; 23(6):861-69
    21. Yavuz B et al. Cardiovascular drugs and therapy 2009; 23:295-9
    22. Wagstaff LR et al. Pharmacotherapy. 2003; 23(7):871-80
    23. Giannopoulos S et al. J Alzheimers Dis. 2014; 42(Suppl 3):S315-20

Bildnachweis: Istoma / iStock 1343642331

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